„Neues wagen“ ist die zentrale Kernbotschaft des Bundespräsidenten an die zukünftige Bundesregierung. Er selber musste ungewohnte Schritte setzen und hat nicht die stärkste, sondern die zweitstärkste Partei mit der Regierungsbildung beauftragt. Wird es nun auch den potentiellen Koalitionspartnern gelingen, neue Wege zu gehen?
Ich gehe hier nicht auf die inhaltlichen Fragen dieser Regierungsbildung ein. Sondern ich richte den Blick auf die gruppen- und organisationsdynamische Gestaltung einer Koalition als neu entstehende Kommunikations- und Kooperationsstruktur.
Den Ideen dafür liegen einige Annahmen zugrunde: So wie bisher kann es nicht weitergehen – sonst werden die antidemokratischen Kräfte noch erfolgreicher. Das, was wir in den letzten Jahren an Turbulenzen erlebt haben, ist erst der Anfang – eine zukünftige Regierung wird mit einer zunehmenden Dynamik von Klimakrisen, Kriegen, Pandemien, technologischen Disruptionen, sozialen Verwerfungen und vielem mehr konfrontiert sein. Die Optimierung der bestehenden gesellschaftlichen Systeme reicht nicht mehr aus. Es zum Beispiel im Bildungssystem oder im Gesundheitswesen notwendig, radikal neue Wege zu beschreiten. All das braucht eine große Kraftanstrengung, die nur auf einer gemeinsamen emotionalen Basis entstehen kann.
Wie lässt sich eine solche erzeugen? Klar ist: Die Art und Weise der Vorbereitung einer Regierung beeinflusst nicht nur ihre Ergebnisse, sondern präjudiziert auch den Charakter der zukünftigen Kooperation.
Das Wollen ist durch nichts zu ersetzen.
Inhaltliche, personelle, kommunikative Fragen sind wichtig. Noch entscheidender für das Zustandekommen und spätere Wirken einer Regierung wird es sein, ob die Beteiligten die Zusammenarbeit wirklich, wirklich wollen. Die Antwort darauf muss am Beginn(!) der Verhandlungen stehen, weil sie diese maßgeblich beeinflussen wird. Das braucht Zeit und Gelegenheit, um die persönlichen Karten auf den Tisch zu legen, sich tief in die Augen zu schauen und ein Gefühl dafür zu entwickeln, ob man sich das gemeinsame Arbeiten wirklich zutraut.
Zuerst das Wer, erst dann das Was klären.
Da nur Menschen etwas wollen können, ist es sinnvoll, zuerst über die Personen und erst dann über die Inhalte zu sprechen. Diese Klärung muss nicht die gesamte Regierung umfassen und schon gar keine Ressortverteilung beinhalten. Es muss aber klar sein, wer die Menschen sind, die die Regierung durch dick und dünn tragen werden. Das sind nicht die Verhandlungsteams, sondern die fünf bis zehn Schlüsselpersonen der zukünftigen Regierungsarbeit. Die sich etwas Gemeinsames vornehmen, was sie dann gemeinsam realisieren. Die sich intern gegenseitig (heraus)fordern und nach außen trotz aller Unterschiede zusammenstehen.
Nicht Lösungen, sondern Probleme in den Fokus rücken.
Obwohl es dem widerspricht, was lautstark von der Politik gefordert wird, ist eine vorschnelle Lösungsorientierung nicht hilfreich. Denn komplexe Aufgaben erfordern eine intensive und differenzierte Auseinandersetzung mit konkreten Problemen. Nur so lassen sich der Modus der Symptombekämpfung und die Logik des kleinsten gemeinsamen Nenners vermeiden.
Es geht dabei nicht um die Durchführung von langwierigen Analysen. Die gibt es zur Genüge. Sondern um die Entwicklung eines gemeinsamen(!) Problemverständnisses. Sonst geht man von völlig unterschiedlichen Problemwahrnehmungen und -ursachen aus – kein Wunder, dass die Kraft der Lösungen dann oft überschaubar ist. Dieses gemeinsame Problemverständnis ist bei ideologisch unterschiedlichen Ausgangspunkten nicht leicht zu erarbeiten. Doch genau hier liegt die eigentliche Verhandlungsaufgabe.
Kein detailliertes Programm, sondern Prinzipien vereinbaren.
Das Ergebnis von Koalitionsverhandlungen ist oft ein umfangreiches Programm. In dieser detaillierten Regelung drückt sich ein großes gegenseitiges Misstrauen aus – keine gute Voraussetzung für gelingende Zusammenarbeit. Außerdem passt das nicht zur dynamischen Welt, in der wir leben. Wenn man schon kaum einschätzen kann, was in den nächsten Monaten passieren wird, wie will man dann eine Periode von fünf Jahren im Vorhinein sinnvoll „programmieren“?
Deswegen werden gemeinsame Schwerpunkt- und Zielsetzungen nicht obsolet, ganz im Gegenteil. Aber erst durch die Reduktion auf einige wenige, dafür wirklich aussagekräftige und richtungsweisende Prinzipien entsteht ein wirksamer Handlungsrahmen. An diesem können sich dann all die Menschen und Institutionen orientieren, auf deren aktive Mitwirkung man angewiesen ist. Ohne dass ihnen damit ihre Expertise und Kreativität, die zeitliche und inhaltliche Flexibilität und in der Folge die Mitverantwortung genommen wird.
Kein Ressortdenken, sondern gemeinsam Verantwortung übernehmen.
So notwendig eine formale Ressort-Zuteilung ist, so limitierend ist sie für die inhaltliche Qualität, so hinderlich ist sie für ein gemeinsames Arbeiten im Regierungsteam.
Warum? Zum einen zeichnen sich die schwierigen Aufgaben – man denke nur an Klimaschutz und -anpassung, an Migration und Integration oder an Fragen der Standortpolitik – alle dadurch aus, dass ein großer und innovativer Wurf nur mit einem hohen Maß an interdisziplinärer Expertise und integriertem Handeln quer durch die Ressorts möglich sein wird.
Zum anderen braucht es für radikale Veränderungen, bei denen es heikel, kontroversiell, vielleicht auch schmerzhaft wird, die Mitwirkung des gesamten Regierungsteams. Unabhängig von Parteizugehörigkeit und Ressortzuständigkeit. Inhaltlich, organisatorisch, vor allem auch kommunikativ.
Ernsthafte und freudvolle Regierungsarbeit statt inszeniertes Politiktheater.
Politik besteht zu einem großen Teil aus Kommunikation, innerhalb der politischen Strukturen und nach außen, mit der Öffentlichkeit. Oft wird dabei übersehen, dass es auch um die Vermittlung eines wichtigen Gefühls geht: Dass eine Regierung ernsthaft Probleme lösen will. Dass sie trotz inhaltlicher Differenzen gemeinsam neue Wege finden kann. Dass da jemand ist, dem das aktive Gestalten unseres Zusammenlebens nicht nur ein Anliegen, sondern auch eine wirkliche Freude ist.
Wenn dieses Gefühl ankommt, dann kann eine solche Regierung auch auf Respekt bei denjenigen hoffen, die inhaltlich nicht einverstanden sind. Wenn Fehler passieren. Wenn es langsamer als gewünscht voran geht. Dieses Gefühl entsteht aber nicht durch die üblichen Inszenierungen des Politiktheaters. Sondern – siehe oben – durch den sicht- und spürbaren Willen einer Gruppe von Menschen, die auf Basis eines geteilten Problemverständnisses gemeinsam Verantwortung übernehmen und in einem turbulenten Umfeld stabil und konzentriert arbeiten.
Dass das keine Selbstverständlichkeit ist, lässt sich im politischen Geschehen tagtäglich beobachten. Ein solcher Arbeitsmodus entsteht nur, wenn er bewusst gestaltet wird. Natürlich ist auch er keine Erfolgsgarantie für eine Regierung. Aber er macht das Zustandekommen und vor allem das nachhaltige Wirken einer Regierung um einiges wahrscheinlicher. Das wäre angesichts der inhaltlichen und demokratiepolitischen Herausforderungen wichtiger denn je.
Dieser Artikel ist ursprünglich (in einer gekürzten und adaptierten Form) als „Kommentar der Anderen“ im STANDARD erschienen: https://www.derstandard.at/story/3000000243784/so-kann-freudvolle-regierungsarbeit-gelingen?ref=article