Unternehmen könnten wichtige Orte der Demokratie sein. Sie sind es aber leider nicht. Im Gegenteil: Sie strotzen geradezu vor undemokratischen Praktiken.

Ich meine: Das ist gefährlich. Denn spätestens seit den letzten Wahlergebnissen in Österreich und Deutschland ist es klar: Schritt für Schritt verfestigen sich da strukturelle Entwicklungen, die existentielle Folgen für uns alle mit sich bringen können. Wenn demokratisch gewählte, aber antidemokratische Kräfte zunehmend in die Nähe der Machtergreifung kommen, dann geht es an und um die Substanz der Demokratie.

Der Populismusforscher Jan-Werner Müller spricht in diesem Zusammenhang vom Handlungsbedarf in der „kritischen Infrastruktur der Demokratie“ und meint damit vor allem Parteien und Medien. Aus meiner Sicht gibt es gute Gründe, auch Unternehmen und Organisationen aller Art als Teil dieser demokratischen Infrastruktur zu betrachten.

Menschen verbringen in Organisationen einen großen Teil ihrer Lebenszeit.

Sie knüpfen dort einen wesentlichen Teil ihrer sozialen Beziehungen. Sie bewältigen in Zusammenarbeit mit anderen schwierige Aufgaben.

Sie bewerten (mehr oder weniger bewusst) Informationen. Sie entwickeln und diskutieren unterschiedliche Sichtweisen. Sie treffen Entscheidungen oder sind von den Entscheidungen anderer betroffen. Sie lernen die Möglichkeiten und Grenzen des eigenen Handlungsspielraums kennen und versuchen, diesen gemeinsam mit anderen zu gestalten.

Das alles könnten wichtige Aspekte einer guten demokratischen Praxis sein, die weit über den Unternehmensalltag hinaus wirkt. Doch tatsächlich schaut die Realität oft anders aus.

In vielen Unternehmen werden die gängigen Management-Praktiken als so selbstverständlich und alternativlos betrachtet, dass ihr undemokratischer Charakter oft gar nicht mehr auffällt. Gut beobachten lässt sich das zum Beispiel an organisatorischen Veränderungsprozessen und im „Change Management“.

  • Oft wird mit großem Aufwand, viel Inszenierung und methodischer Raffinesse eine Schein-Partizipation organisiert. Eine echte Beteiligung mit offenem Diskurs und der Mitwirkung an wichtigen Entscheidungen wird nicht ermöglicht.
  • Die Kommunikation wird im Sinne der Message-Control gestaltet und von oben nach unten kaskadiert. Wirkliche Transparenz der relevanten Daten und Informationen, auf deren Basis sich alle selber eine Meinung bilden könnten, gibt es nicht.
  • Damit verbindet sich häufig ein Paternalismus, der vorgibt, Menschen vor Demotivation, Belastung und Überforderung zu schützen. Dass Erwachsene sich nur wie Erwachsene verhalten können, wenn man ihnen die Realität zumutet, wird dabei ignoriert.
  • Noch immer ist die planwirtschaftliche Steuerung durch das zentrale Management das vorherrschende Paradigma der Unternehmensführung. Das bedarfsgerechte, autonome Agieren nah an der Sache und die damit verbundene eigenständige, dezentrale Verantwortung werden dadurch strukturell verhindert.
  • Durch den Fokus auf individuelle Leistungen wird eine Illusion der eigenen Unabhängigkeit erzeugt. Das Bewusstsein, dass viele Probleme nur gemeinsam gelöst werden können, und die Übernahme von gemeinsamer Verantwortung für große Aufgaben kann so nicht entstehen.
  • Naturgemäß prallen in einer Organisation unterschiedliche Wahrnehmungen, Emotionen, Interessen und Ideen aufeinander. Doch statt diese Konflikte zu normalisieren und produktiv zu nützen, wird in vielen Unternehmen ein harmonisches Ideal proklamiert und verfolgt. Daraus kann keine Konfliktkompetenz erwachsen.
  • Nicht zuletzt wird die Tatsache, dass in jeder Organisation Macht existiert und ausgeübt wird, nicht offen diskutiert, sondern geradezu tabuisiert. So gelingt es nicht, Macht produktiv zu nutzen und gleichzeitig ihre Legitimation kritisch zu reflektieren.

Lassen sich solche Muster nicht auch generell mit Blick auf unsere Demokratie feststellen? Ich meine schon. Welchen Anteil hat daran die undemokratische Praxis in den meisten Unternehmen? Ist es verwunderlich, wenn Menschen das, was sie tagein tagaus praktizieren (müssen), auch auf ihr gesellschaftliches Verständnis und Verhalten anwenden? Ich denke nicht. Doch das muss nicht so sein.

Jedes Unternehmen kann ein (H)Ort der Demokratie sein.

Dafür gibt es viele bewährte Praktiken. Sie stärken nicht nur demokratische Kompetenzen, sondern verbessern auch die Fähigkeit des Unternehmens, komplexe Aufgaben in einem dynamischen Umfeld zu bewältigen. Hier einige Beispiele:

  • Kleine, dezentrale Teams, die autonom Leistungen für ihre Kunden erbringen. Verbunden mit der strukturellen Verlagerung der Entscheidungsmacht dorthin. Basierend auf der Erkenntnis, dass Menschen dann selbstständig und bedarfsgerecht entscheiden.
  • Teams, die sich selbst finden und Menschen, die sich ihre eigenen Rollen nehmen. Mit all den Möglichkeiten und Herausforderungen, die das mit sich bringt. Verknüpft mit der Verpflichtung, als Team eine durch andere wertgeschätzte Leistung zu erbringen.
  • Selbst definierte und verbindliche Vereinbarungen als „Schmiermittel“ der Organisation. Zwischen Kunden und Unternehmen. Zwischen Teams im Unternehmen. Zwischen Menschen im Team. Im Bewusstsein, dass es dabei unterschiedliche Interessen gibt. Mit dem Wissen, dass sich manche Konflikte nicht auflösen, aber trotzdem bewältigen lassen.
  • Eine gemeinsame inhaltliche und wirtschaftliche Verantwortung für das Handeln des eigenen Teams. Geleitet von der Erfahrung, dass Menschen dann Verantwortung übernehmen, wenn sie die Konsequenzen des eigenen Handelns direkt spüren. Sowohl im positiven als auch im negativen Fall.
  • „Offene Bücher“, also die vollkommene Transparenz sämtlicher (wirtschaftlicher) Daten des Unternehmens für alle. Ergänzt und unterstützt durch ein Controlling, das nicht mehr (nur) für die Geschäftsführung, sondern für alle Teams und Mitarbeitenden des Unternehmens erbracht wird. Mit dem Anspruch, alle relevanten Informationen „auf Knopfdruck“ zur Verfügung zu stellen.
  • „Open Spaces“ als selbst-organisierte, inhalts- und ergebnisoffene Arbeitsstrukturen, um das Unternehmen gemeinsam zu gestalten. Damit Initiative, Mitwirkung und Mitentscheidung allen offen stehen. Geleitet von der Überzeugung, dass Demokratie kein Zuschauersport ist und aus viel mehr als aus Wahlen besteht.

Diese und viele andere Praktiken tragen dazu bei, dass Menschen mitwirken und mitverantworten. Sie machen die Abhängigkeit des eigenen Handelns von anderen sicht-, spür- und bearbeitbar. Sie ermöglichen einen echten, kontroversiellen und trotzdem konstruktiven Diskurs. Sie erfordern Entscheidungen und die Akzeptanz, dass Entscheidungen auch gegen den eigenen Willen getroffen werden.

Das wäre doch kein schlechter Beitrag zu mehr Demokratie in Unternehmen und Gesellschaft. Oder?

Foto von Jon Tyson auf Unsplash